Séance Surréaliste
28.09. – 19.10.2024
Séance Surréaliste
„SURREALISMUS, Substantiv, m., reiner, psychischer Automatismus, durch welchen man, sei es mündlich, sei es schriftlich, sei es auf jede andere Weise, den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Vernunft-Kontrolle und außerhalb aller ästhetischen oder ethischen Fragestellungen.“ (Aus: André Breton, Erstes Manifest des Surrealismus, 2024)
Vor 100 Jahren erschien André Bretons Erstes Manifest des Surrealismus, das subversive Grenzüberschreitungen in Kunst und Leben propagierte: eine ästhetische Praxis der Brüche, des Bizarren, Makabren und Hybriden, der Verwandlungen und Maskierungen, des Geheimnisvollen und hintergründig Humorvollen, die sich in unterschiedlichen Windungen, Variationen und Mutationen bis in unsere Gegenwart hinein zieht. Zielten die historischen Surrealist:innen noch darauf, die Grenzen traditioneller Kunstproduktion und –rezeption durch die fluiden Energien des Unbewussten, des Traums und der Transformation sowie durch die Konfrontation unsinniger und gegensinniger Kräfte zu sprengen, so geht es heute darum, die Wirklichkeit selbst in ihrer Widersprüchlichkeit, Unheimlichkeit und Rätselhaftigkeit zu reflektieren.
Die Traumsphären und anderen Parallelwelten des Verborgenen, aus denen die klassischen Surrealist:innen in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts durch Ausschaltung der Vernunft eine neue Bildsprache zu schöpfen suchten, sind im 21. Jahrhundert von der Inkohärenz des alltäglichen Lebens und der weltumspannenden Medienflüsse überholt worden. Noch nie waren wir global so vernetzt und informiert wie in der jetzigen Zeit. Zugleich haben wir keine verbindlichen Kriterien mehr, um uns in der paradoxen Fülle der Informationen zurechtzufinden, die sich hinter den verhüllenden Schleiern der digitalen Bilderströme zu immer wieder anderen, opaken Mustern fügen.
In einer Wirklichkeit, die selbst zum Enigma geworden ist, führen Künstler:innen heute die widersinnigen (Alb-)Traumbilder des historischen Surrealismus mit Auswüchsen des Mysteriösen und Mehrdeutigen unter anderen Vorzeichen weiter. Diese finden Ausdruck in Ästhetiken des Disparaten, Rätselhaften und Mehrdeutigen, Gegenüberstellungen des Widersinnigen und der Konzeption von (Un-)Sinn-Systemen, die keine Antworten liefern, sondern fragmentarisch, hermetisch, ungreifbar bleiben. Die Ausstellung Séance Surrealiste, die aus einem mehrköpfigen, dem surrealistischen Spiel des Cadavre exquis nahen kuratorischen Prozess hervorgegangen ist, richtet den Blick auf unterschiedliche Formen gegenwärtiger künstlerischer Beschäftigung mit der vielfach gebrochenen Wirklichkeit heute. Eine Beschwörung der alten Phantome und neuen Geister surrealer Strategien.
Belinda Grace Gardner
Eine Gemeinschaftsproduktion des 8. Salons.